"Das Gedächtnis der Besiegen", im Original 1990 erschienen, ist ein Historienroman, der vesucht, die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts in ein großes, erzählerisches Panorama zu fassen. Über die Biographie einer fiktiven Hauptfigur (die gleichwohl eine Synthese verschiedener realer Lebensläufe darstellt) werden die wichtigsten Etappen und Wendepunkte dieses Zeitalters miteinander verknüpft und aus anarchistischer Sicht geschildert.
Der "Held", Fred Barthélemy, wächst am Vorabend des ersten Weltkrieges im Pariser Anarchistenmilieu auf, gelangt während des Krieges als Mitglied einer französischen Militärmission nach Russland, wird Beobachter und Beteiligter der revolutionären Ereignisse und Machtkämpfe, kehrt desillusioniert in das Frankreich der Zwischenkriegszeit zurück, arbeitet als Schlosser bei Renault, macht sich einen Namen als politischer Publizist, nimmt am spanischen Bürgerkrieg teil, verbringt den zweiten Weltkrieges als Antimilitarist in Haft und gehört schließlich in den Nachkriegsjahren zu den Vergessenen, die erst in Zeiten eines erneuten politischen Aufbruchs (Mai 68) wieder ins Rampenlicht getreten sind.
Der Verfasser, Michel Ragon (Jahrgang 1924), war in Frankreich bereits als Kunst- und Architekturkritiker bekannt, bevor er anfang der 1980er Jahre auch als Romancier den Durchbruch schaffte. Als Kunstkritiker ein Verfechter der Avantgard, geht Ragon in seinem literarischen Werk einem anderen Weg. In seinem oft mit autobiographischen Bezügen versehenen Geschichtsromanen knüpft er an die Tradition des reralistisch-naturalistischen Erzählens an und ziehlt darauf ab, mit klar strukturierten Geschichten ein Massenpublikum zu erreichen.
Wie in seinem bekanntesten Roman "Die roten Tücher von Cholet" (dtv), der den Massenmord an der aufständischen Bevölkerung der Vendée (Provinz in Westfrankreich) während der französischen Revolution thematisiert, geht es Ragon auch in "Das Gedächtnis der Besiegen" darum, die aus der offiziellen Geschichtsschreibung verbannten Kämpfe vergessener und besiegter Sozialbewegungen wieder ins Gedächtnis zu rufen.
Aus einer Rezension von Steffan Mozza: "Ich habe häufig geflucht, dass es kein Buch gibt, das die Erfahrungen aus Rebellion und Revolution des 20. Jahrhunderts vor 1968 zusammengefasst. Wir wiederholten, was andere schon viel besser verbockten. Erst anschließend, beim kritischen Hinterfragen, kam die Entdeckung der Parallelen zu den früheren Kämpfen. Viele marschierten in die Institutionen und glaubten sich auf dem Weg der Befreiung. Erstzunehmende Kritik an "1968" (bis zu den Autonomen) setzt hier an. "Kein Zweifel, die Macht, und zwar jede Macht, liess die grössten Idealisten zu Robotern mutieren." Doch wer mit dem Finger auf andere zeigt, sollte die drei in die eigene Richtung nie vergessen. In anderen Worten: "Wisst ihr eigentlich, dass ihr gar nicht lustig seid, mit eurer Tugendmasche?"
Dieser Roman ist ein guter Einstieg in die vergleichende Krawallkunde. Es ist locker lesbar und eingängig geschrieben. Mit diesem Buch könnte sich etwas ändern. Bis dahin gilt: "Ihr könnt mich mal."
Buch, 392 Seiten